Donnerstag, 10. April 2014

Ist das so?

„In einer Stadt in Japan lebte ein Zenmeister Hakuin. Er war hoch geachtet, und die Menschen strömten zu ihm, um sich spirituell belehren zu lassen. Nun geschah es, dass die junge Tochter seines Nachbarn schwanger wurde. Als ihre verärgerten Eltern sie ausschimpften und in sie drangen, wer der Vater des Kindes sei, antwortete sie ihnen schließlich, es sei Hakuin, der Zenmeister. Da liefen die Eltern voller Entrüstung zu Hakuin, machten ihm Vorwürfe und erzählten ihm empört, dass ihre Tochter ihnen gestanden hätte, er sei der Vater des Kindes. Alles, was er darauf entgegnete, war: „Ist das so?“
Der Skandal verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Stadt und über die Stadtgrenzen hinaus. Der Meister verlor seinen guten Ruf. Ihn störte das nicht. Niemand suchte ihn mehr auf. Auch das berührte ihn nicht. Als das Kind geboren war, brachten es die Eltern zu ihm. „Ihr seid der Vater, also kümmert Euch auch darum.“ Der Meister nahm sich liebevoll des Kindes an. Ein Jahr später gestand die Kindesmutter ihren Eltern reuevoll, dass der wirkliche Vater des Kindes der junge Mann aus dem Fleischerladen sei. Vollkommen zerknirscht gingen die Eltern erneut zu Hakuin, um sich zu entschuldigen und seine Vergebung zu erbitten. „Es tut uns aufrichtig leid, Wir sind gekommen, um das Kind abzuholen. Unsere Tochter hat uns gestanden, dass Ihr gar nicht der Vater seid.“ „Ist das so?“, soll Hakuin gesagt und ihnen den Säugling zurückgegeben haben.
Der Zenmeister hat auf Lüge und Wahrheit, schlechte und gute Nachrichten genau gleich reagiert: „Ist das so?“ Er lässt den Augenblick in der Form zu, die er gerade hat, ob gut oder schlecht, und wird deshalb nicht in das menschliche Drama hinein gezogen.“

Eckhart Tolle, Eine neue Erde, Seite 210 f

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